Die Bibliothek als Geisterhaus
Donnerstag, 12. April 2018

Interview von Gaby Blattl mit Dr. Haimo L. Handl, dem Gründer und Initiator der Bibliothek Gleichgewicht

 

Die Bibliothek als Geisterhaus

Gaby Blattl: Herr Dr. Handl, was waren Ihre Beweggründe, 2013 die Bibliothek Gleichgewicht zu gründen und in Drösing, einem kleinen Dorf im nordöstlichen Weinviertel, zu installieren?

Dr. Handl: Seit meiner Kindheit lese ich und bin ein enthusiastischer Bücherwurm oder eine stets neugierige Bücherratte geworden, man könnte auch sagen, ein Büchernarr. Seit meiner Jugend erwerbe ich Bücher. Ich stellte einen Großteil meiner Privatbibliothek dem Bildungs- und Kulturverein Gleichgewicht als Dauerleihgabe zur Verfügung, um der Öffentlichkeit den Zugang zu einer kleinen (Bestand ca. 12.000 Titel), aber hochkarätigen Sammlung zu ermöglichen, in der Annahme und Hoffnung, wenn nicht Erwartung, damit eine kulturelle, kulturpolitische und bildnerische Aufgabe mitzugestalten.

GB: Auch am Land gibt es viele Büchereien. Braucht es da eine neue Bibliothek?

HLH: Unsere Bibliothek versteht sich nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung. Die Sortierung ist nicht nur für diesen Standort außergewöhnlich. Auch die größeren Bezirksbibliotheken in Gänserndorf oder Mistelbach, die einen wesentlich höheren Bestand ausweisen, müssen dauernd aussondern, um ein definiertes Verhältnis von Bestand und Entlehnungen aufweisen zu können. Wir als Sammelbibliothek erfüllen die eigentliche Aufgabe einer Bibliothek, sammeln und bewahren und machen auch Entferntes oder Obskures zugänglich. Ob das auch genutzt wird, ist allerdings eine andere Frage. Hier fehlt ein entsprechendes öffentliches Interesse bzw. hier lassen die regionalen Medien aus.

GB: Die Sammlung ist ja kein Selbstzweck. Das Aussondern von Beständen, die nicht oder ganz selten entlehnt werden, ist eine pragmatische Entscheidung hinsichtlich der räumlichen Ressourcen bzw. personeller der Betreuung.

HLH: Mich schmerzt es mitansehen zu müssen, dass systematisch Bücher als Makulatur ausgesondert werden. Auch wenn ich die Pragmatik verstehe. Aber man hätte all die Jahre einen Dienst, ein Programm einrichten und durchführen können, womit die entsorgten Bücher erfasst und gezielt verteilt hätten werden können. Ich kann nicht glauben, dass Bücher nach einem kurzen Ablaufdatum einfach Altpapier sein sollen.

Würde die Quote gelten, hätte man keine Nationalbibliotheken gründen dürfen, müsste sie nicht teuer unterhalten. Überhaupt die Großbibliotheken wären in Frage gestellt. Nicht nur alte Bücher, Exotika oder besondere wissenschaftliche Werke werden ganz selten entlehnt bzw. gelesen. Sollten sie vernichtet werden?

Hier tut sich ein Widerspruch auf: Als Museum, als Prachtbau, als Riesensammlung heimst man ein positives Image ein, ist stolz sich mit anderen bedeutenden Bibliotheken zu vergleichen. In Wikipedia z.B. können Sie die Liste der größten Bibliotheken einsehen. Über diese Rangordnungen, ganz auf Quantitäten gestützt, geht die Frage nach den Qualitäten verloren. Zudem: Kultur gilt nicht nur an den Spitzen. Sie muss „basiert“ sein, in gewissem Sinne „fundamental“. Alles andere wäre aufgepfropft, was es in vielen Fällen leider auch ist.

GB: Spielen Sie damit auch an die Jubiläumsfeierlichkeiten der Österreichischen Nationalbibliothek an?

HLH: Ja. Der Stolz über diese Bibliothek ist disproportional zur allgemeinen niederen Wertschätzung von Bibliotheken in unserem Lande. Das Jubiläum ist ein gefeiertes Event, das unter anderem ablenkt und darüber hinwegtäuscht, wie schlimm eigentlich die Lage der Bibliotheken bei uns ist.

GB: Aber es gibt doch ein dichtes Netz von Universitäts- und Fachbibliotheken und von vielen Büchereien?

HLH: Noch. Aber die meisten Bibliotheken oder Büchereien existieren nur, weil Tausende von Ehrenamtlichen Gratisarbeit leisten, da die Kommunen nicht verpflichtet sind, ähnlich wie im Schulwesen, Bibliotheken zu errichten und zu unterhalten.

Erfreulicherweise gibt es Förderungen seitens des Bundes und der Länder, in manchen Fällen der Gemeinden, für Büchereien und Bibliotheken. Doch vor allem die kleinen oder kleineren Büchereien wären ohne die ehrenamtliche Freiwilligenarbeit nicht existent, müssten geschlossen werden, weil es keine Budgets gibt für ihren Betrieb.

Der Skandal, dass der Staat über seine Kommunen die Aufgabe der Errichtung und des Unterhalts von Bibliotheken nie wahrnahm und nicht vorhat wahrzunehmen, wirft ein deutliches Licht auf die tiefe Ignoranz und Intellektuellenfeindlichkeit unseres Landes.

GB: Weshalb Intellektuellenfeindlichkeit?

HLH: Weil Bibliotheken und Leser zusammengehören, weil der Umgang mit Büchern, wenn er denn erfolgt, in einem regen Geistesleben sich äußert und ausdrückt, was (positive) Unruhe bedeutet. Unsere Kultur ist aber durch eine bestimmte „Ruhe“ gekennzeichnet. Nur am Rande wird Unruhe toleriert, erst seit Kurzem hie und da willkommen geheißen und gefördert.

Wenn Sie die öffentlichen Ausgaben für Sport vergleichen mit denen fürs geistige Leben, sehen Sie die wahren Dimensionen. Immerhin werden bei uns die reproduktiven Künste noch gepflegt, beruft man sich auf Opernhäuser, Konzertsäle und Theater als Stätten der Kultur. Aber Bibliotheken?

GB: Was ist für Sie die Bibliothek?

HLH: Ich möchte Ihre Frage erweitern: Was ist eine Bibliothek? Meine Meinung oder Haltung dazu repräsentiert nur eine Sicht. Interessant wäre der Blick auf das Urteil der verantwortlichen Politiker und Bibliotheksbetreiber, soweit es neben feierlichen Verlautbarungen oder selbstgefälligen „Leitbildern“ in Geschäftsberichten oder Katalogen an den Taten ablesbar ist.

Was kann eine Bibliothek sein, worin liegt ihre Funktion, ihr Wert? Neben der Sammlung und dem Ausweis des national Publizierten ist sie ein Depot. Aber sie ist auch eine Vermittlerin. Sie ist eine Gebrauchseinrichtung. Im besseren Falle ist sie eine Arbeitsstätte, ein Wissensort, ein Wissenszentrum.

GB: Schließt das die Unterhaltung aus?

HLH: Nein. Doch scheint mir, dass heute eine Umkehrung stattfindet, zumindest bei den Publikumsbibliotheken oder Büchereien. Hier dominiert der Unterhaltungsaspekt. Bücher oder Lesen genügen nicht mehr. Eine moderne Bücherei muss eine Sozialeinrichtung sein für Kinder, Eltern, Bedürftige, Hilfesuchende, zu Integrierende. Es müssen Räume für Handarbeiten, Malen, Spiele, sogar Werkstätten (die natürlich „makerspaces“ heißen) die Gelangweilten einladen, animieren. Büchereien seien wichtig für die Integration und die Demokratie. Tausenderlei Gründe werden bemüht, damit ein Heer von Coaches, Pädagoginnen und Beraterinnen die Betreuung (ja, Betreuung) der Bedürftigen bewerkstelligen, kontrollieren. Falls gelesen wird, dann möglichst nie alleine, nie solitär, immer in der beaufsichtigten Gruppe, immer nach Anleitung, die aber vorgibt, die persönliche Freiheit und Entfaltung zu fördern und ihr zu folgen. Eine ideologisch bedingte Lüge.

Wer sich auf Lektüre konzentrieren möchte, muss sich schon fast entschuldigen, triftige Gründe für seine Abnormität anführen, weil er als devianter Fall sich kontrastiert vom Ein- und Angepassten.

GB: Aber man kann doch nicht erwarten, dass alle „ernsthaft“ lesen oder studieren wollen?

HLH: Muss man auch nicht. Aber dass es kaum mehr möglich ist, außer man hat die Kulturtechnik Lesen verinnerlicht und ein gesundes Selbstvertrauen, sollte doch ein Alarmzeichen sein und zu denken geben.

Ich möchte zurückkehren zu Ihrer Frage nach dem Wesen der Bibliothek. Sie war in vielen Fällen auch früher nicht nur eine Sammlung von Büchern, auch wenn diese dominiert haben. Eher eine Sammlung von Artefakten, die als Informationsquelle, als „Datum“ gesehen und verwendet werden konnten. Ob das nun Urkunden oder Verträge sind, Globen oder Bilder usw., ist einerlei. Heute kommen die elektronischen Speicherungen hinzu, die riesigen Datenbänke, die in Sekundenschnelle weltweiten Zugriff auf Gespeichertes erlauben.

Dagegen ist nicht nur nichts einzuwenden, sondern es ist sogar zu begrüßen, weil damit riesige Bestände zugänglich gemacht werden, die bei dieser Art Nutzung keinen Schaden nehmen.

GB: Das überrascht mich, wie sie Partei für die Vernetzung nehmen.

HLH: Sollte Sie aber nicht. Ich nutze selbst das Internet sehr intensiv. Es erleichtert die Recherche, es hilft bei der Textarbeit, Exegese usw. Belegstellen finden sich elektronisch oder im Netz leichter und schneller, als vorher. Wenn ich mir meine Zettel ansehe, die die Bücher verdicken, in denen sie stecken, des mühsamen Suchens mich erinnere, weil die gedruckten Register relativ grob sind, wenn ich all dies vergleiche mit den heutigen Möglichkeiten, gibt es keinen Zweifel: hier lässt sich leichter und schneller arbeiten. Aber das stimmt nicht unbedingt hinsichtlich der Lektüren. Das Buch lese ich, wenn irgendwie möglich, in alter Form. Die Elektronik ist für gezieltes Arbeiten, das Buch für die ganzheitliche Auseinandersetzung, die jede wirkliche Lektüre auszeichnet.

GB: Sie lesen keine E-Books?

HLH: Wenn es sich vermeiden lässt, nicht. Ich bin gewohnt, mit dem Bleistift zu lesen. Das lässt sich elektronisch nur umständlich anwenden. Da bleib ich lieber beim Buch. Doch heißt das nicht, dass ich E-Books abwerte. Auch im Internet kann man lesen. Nur vermute ich, dass jene, die das Lesen nicht wirklich erlernt haben, auch mit den modernsten Kommunikationsmitteln nicht wirklich lesen, sondern sich Häppchen holen. Richtiges Lesen verlangt Hingabe, Begeisterung, Versenkung. Eigenschaften oder Haltungen, die heute in der Spaß-Kultur verpönt sind. Wenn Sie also eine Leserin sind, werden Sie auch im Internet lesen. Doch wenn Sie diese Sozialisation nie durchgemacht haben, nur Oberflächenlesen, Entziffern, gelernt haben, werden Sie nie in ein Buch sich vertiefen können, werden nie den Text in der Wiedervergegenwärtigung beleben, die gefrorene Sprache der Schrift auftauen und verlebendigen. Sie werden draußen bleiben, an der Oberfläche, wofür dann eben die „Experten“ und „Betreuer“ da sind, die sie pädagogisch und ideologisch korrekt führen, leiten, begleiten.

GB: Wie steht’s um die Bibliothek als Wissensort?

HLH: Ein interessanter Aspekt. Zum Lesen braucht es nicht unbedingt eine Bibliothek. Aber eine Bibliothek kann mehr sein als ein Depot. Sie kann wie ein Tempel sein, in dem man sich zu Kulturübungen trifft, wo einen ein gewisser Geist streift oder wo eine bestimmte Gemeinschaft einen heimisch sein lässt.

GB: Was heißt das genau?

HLH: Bücher sind körperliche Objekte. Sie sind gewissermaßen Materialisationen. Nicht nur Material als Ware, als Stoff, sondern Materialisationen ähnlich dem Substitut, das in der heiligen Wandlung zum Stoff „Gott“ wird. Obgleich ein Widerspruch, dass ein Geist ein materiales Heim bräuchte, wird der Gott im Objekt heimisch und in der kostbaren Monstranz gezeigt. Für Nichtreligiöse schwer nachvollziehbar, aber doch vorzustellen:  Es genügt nicht das Wort, denn das Wort ist Fleisch geworden. Damit es unter uns wohnt, muss man es lokalisieren, „dingfest“ machen, weil es sich sonst zu leicht und schnell verflüchtigt. Der Geist alleine genügt nicht. Übertragen Sie das auf die elektronische Netzwelt. Die Daten alleine genügen nicht. Sie müssen Form und Körper annehmen. Das leistet das Buch. Wenn ich bei meinen Büchern bin, bin ich nicht nur bei Objekten, sondern bei den Zeugen, Manifestationen der Autorinnen und Autoren, der Geister. Das materiale Buch ist wie ein Stellvertreter, es nimmt einen Platz ein. Drum sprach ich vom Tempel. Man braucht die Geister nicht mehr rufen, sie sind da, versammelt in den Regalen, auf den Tischen. Sie bieten sich an geöffnet, angesprochen zu werden. Sie reden in dem Maße, wie ich als Leser sie zum Reden bringe. Nichts spricht aus sich selbst. Immer ist es der Mensch, immer bin ich es, der wiederbelebt in der Vergegenwärtigung, im Denken, in der Imagination, im Visionieren, im erweiterten Zwischenraum von Wissen-Denken-Fühlen, wo die Grenzen zwischen Erinnern und spontanem Konstruieren verschwimmen, wo Stimmen sprechen und Geräusche, Musiken ertönen, die oft neue Formen annehmen, Überraschungen bieten, obwohl der Stoff als Ausgangspunkt bekannt war.

GB: Wirklich schwer vorstellbar in einer riesigen Bibliothekshalle…

HLH: Ich spreche von einem Ideal. Aus meiner Jugendzeit habe ich einen Vergleich, ein Beispiel. In Feldkirch gab es neben den katholischen Volksbüchereien auch eine Bibliothek der Arbeiterkammer, wo man sich Bücher ausleihen konnte. Man bestellte und holte, wie im „Lädele“, an der Theke das Buch ab. Es gab keinen Lesesaal oder keine Lesestube. Aber ich war froh, wenigstens Bücher entlehnen zu können.

Es gab damals auch eine Bibliothek der Österreichisch-Amerikanischen Gesellschaft. Die war in einem alten Haus, in einer Wohnung untergebracht. Dort stand neben den offen zugänglichen Regalen auch ein Flügel, an dem hie und da jemand spielte. Es gab einen guten Plattenspieler und eine Schallplattensammlung, aus der man auflegen konnte. Man konnte sogar Platten entlehnen. Was mir aber am meisten imponierte, war die Stimmung: es kamen etliche „Stammgäste“, man saß in den Fauteuils oder auf der Couch, plauderte, erzählte oder, besonders als Junger und Grünschnabel, hörte zu. Diese offene Atmosphäre, das kultivierte Gespräch mit und um Bücher und Musik begeisterte mich sehr. Ich ziehe einen kleinen, feinen Bibliotheksraum deshalb einer Riesenhalle vor. Die Bibliothekarin empfahl nach ihrem Wissen und Geschmack. Einige Besucher ergänzten oder korrigierten die Einschätzung, es war lebendig. Niemand erwartete Objektivität, alles glich sich entweder kultiviert aus oder koexistierte. (Dieses Erleben war auch einer der Gründe für meine lange Begeisterung für die amerikanische Kultur. Als ich in den USA studierte, nutzte ich die Universitätsbibliothek sehr intensiv, war begeistert vom offenen Zugang und den effizienten Arbeitsmöglichkeiten. Ich studierte und las viel mehr, als ich für das Studium eigentlich benötigte, was meine Kommilitonen verwunderte, da die Zeit immer eng bemessen war.)

GB: Ist von daher ihre Sicht der Bibliothek als Geisterhaus so positiv gespeist?

HLH: Ja. Den Geist des Autors entdeckte ich im Buch, das ich nachts im Bett las, im Internat heimlich mit Taschenlampe unter der Decke, entrückt im Freien, während die anderen Fußball spielten. Die Geister habe ich um mich, wenn ich in die Bibliothek komme. Ich fühle mich wohl und daheim. So, wie die Künste, vor allem die Musik, meine Seele beglücken, schätze ich es, ein Daheim für das Denken, den Geist zu haben und andere Geister zu treffen. Es gibt keine Einsamkeit.

GB: Danke für das Gespräch.

 

(Das Gespräch wurde am 12. April 2018 in der Bibliothek Gleichgewicht geführt.)

 

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