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Donnerstag, 16. April 2009

Kolumne "Wort zum Sonntag" von Haimo L. Handl, 18.09.2005

 

Schon in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts las ich über die geschätzten 300.000 funktionalen Analfabeten in Österreich. Heute geistert die Zahl wieder in den Medien, termingerecht zu Schulbeginn und zum Ende der Sauren-Gurke-Zeit. Dazu die gleichen Meldungen, das Thema werde tabuisiert, obwohl in Intervallen immer darüber berichtet wird. Interessanterweise existiert keine seriöse, nachvollziehbare, nachprüfbare Studie. Nur Mutmassungen, Schätzungen. Das reicht. Der UNESCO und den Bildungsverantwortlichen. Den Journalisten sowieso. Die sind ja alle gebildet und können nicht nur Lesen und Schreiben. Sondern auch Denken. Deshalb mutmassen sie.

Das Problem ist weder neu noch überraschend. Was auffällt, ist die disproportionale Aufregung, die instrumentalisiert erzeugt wird. Das heisst nicht, dass nichts Konkreteres gegen diesen Missstand unternommen werden solle oder müsse. Aber es relativiert die Aufregung. Sie dient wahrscheinlich auch eher zur Kaschierung eines anderen Fänomens: der weiteren Parzellierung und Marktausrichtung von Bildung und Wissen oder was man dafür hält bzw. halten muss, will man "in" und im Markt sein.

Ein anderer Aspekt ist die Werteverschiebung gewisser Kulturtechniken. Die Neuen Medien veränderten Wahrhnehmungs- und Kommunikationsweisen. Der Vergleich mit Rezeptions- bzw. Kommunikationsarten aus früheren Zeiten, z.B. Leseverhalten, ist nicht so ohne weiteres mit heutigen giltig oder sinnvoll. Lesen, Lesarten, Leseverhalten haben ihren Status und ihre Funktion verändert; sie sind in anderer Konkurrenz als in den Fünfziger- oder Siebzigerjahren. Hinzu kommen sozial bedingte Veränderungen von Kommunikationsweisen. Man denke nur an die vielgepriesene Lesefreude der Russen oder Ostdeutschen. Wie bedingt die waren durch die Hohe Einfalt und geringe Vielfalt des Medienmarktes als Teil des planwirtschaftlichen Marktes und davon geprägten Alltags, zeigte sich, als die eisernen Vorhänge fielen, die Fenster (Grenzen) sich öffneten und endlich die Kulturbeflissenen nicht nur Bananen, sondern auch anderes als "nur" Bücher aus Staatsverlagen bekommen konnten.

Neben den kleinen Gruppen jener, die sich bei uns nicht schulen lassen, die nicht lernen, die also nicht die üblichen Sozialisationen durchmachen, gibt es eine viel grössere Gruppe, die zwar die wesentlichen Kulturtechniken beherrscht, sie aber weder souverän, noch offen oder kreativ oder "bildend" einsetzt. Sonst litten wir nicht unter dem Triumph des Regimes der Halbgebildeten.

Das finde ich viel schlimmer und bedauerlicher als jene Gruppe, die ihr Unvermögen meist pauschal der Gesellschaft anlastet: die Schule war schuld, die ignoranten Lehrer. Fällt es niemanden auf, dass nie der Eigenanteil des eigenen Elternhauses, geschweige des Analfabeten an seiner Nichtbildung angesprochen wird?

Die Eiligkeit, mit welcher das System wieder einmal versagt hat, belegt einen Kern der Malaise: es ist obszön geworden zu erwarten oder zu verlangen, dass der und die Einzelne selbst was beitragen, arbeiten und leisten muss, um dies oder jenes zu erreichen. Das entspricht natürlich nicht der Opferkultur und der süsslichen Spasskultur, wo Wissen so nebenbei, witzig und spassig, jedenfalls unterhaltsam "angeeignet" wird, wo nichts "mühsam" sein darf, wo Betreuer helfen und helfen. Es sind solche Restbestände verkümmerter, falscher Helferideologie, Versatzstücke unausgegorenener Haltungen, die keine Benotungen wünschen, keine Bewertung wollen. Trotz dieser "Toleranz" haben aber einige doch nicht gelernt. Müsste doch nachdenklich stimmen? An den Noten wird es nicht gelegen sein. Worin hat die Betreuergesellschaft versagt?

Damit sollen nicht die künstlichen Barrieren oder Zugangsbehinderungen akzeptiert oder gar unterstützt werden. Es geht aber um eine billige Sicht, die fatal falsch ist, und die sich am Thema Alfabetismus schon präzise zeigen lässt: Leistungsverweigerung. Lesen ist mehr als Entziffern. Lesen ist Denken, Denken ist Arbeit, Arbeit ist Leistung. In bequemen, leistungsverweigernden Gesellschaften entwickelt sich das unverbindliche Glotzen (Zappen) eher als das denkende Lesen (das ist eigentlich ein Pleonasmus, weil Lesen Denken impliziert, denn nichtdenkendes Lesen ist nicht Lesen sondern Ablesen oder sonst ein Ersatz).

Die Medien exerzieren es auch vor: Keine komplizierten Sätze, überhaupt keine "Partituren" mehr, keine Nebensatzeinschübe, Konditionalsätze, Konjunktive oder selten gewordene Genitive. Alles einfach und direkt. Die konkrete Sprache der verlogenen, falschen Direktheit. Basisdeutsch genügt. Sprachkurse sind Zwang und Druck. Sprachsensibilität etwas für Philister. Manager brauchen sie nicht, Diplomaten auch nicht. Und wer muss schon lesen? Die Neuen Medien bereiten alles schön grafisch gegliedert auf: Leitfarben, Piktogramme, Kurzfilmchen, Tschinn-Bumm-Trarar, ist doch alles "cool". In IT-Kursen übt man den Kurzstil, lernt "Fremdworte" zu vermeiden und freut sich am Denglish.

Den paar Depravierten, die als funktionale Analfabeten herumgeistern, offeriert man Kurse, die teurer kommen, als eine besser greifende Grundausbildung. Andererseits ist man froh keine genauen Studien zu haben, denn dann würde belegt sein, dass ein hoher Anteil dieser Zukurzgekommenen aus bestimmten Schichten stammt - und das wäre ein Politikum: es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Generell sind unsere erfolgreichen Manager, sei es im Privatwirtschaftsbereich (gibt es noch einen staatlichen?) oder in der Politik keine überzeugenden Beispiele, dass höhere Bildung eine Voraussetzung für Erfolg im Beruf sei. Weder glänzt Frau Ministerin Gehrer durch hohe Intelligenz, noch brilliert Minister Grasser durch Bildungsbreite oder -tiefe. Ist irgendwo eine Intellektuelle zu sehen? Eine Person, die frei in gutem Deutsch spricht? Sind wir nicht schon dankbar, wenn sie nicht stottern? Wie tief sind wir gesunken, dass wir die Dürftigkeit der stereotypen Aussagen hinnehmen und nicht empört zurückweisen? Diese Leutchen aber geben nicht nur den Ton an, sie bestimmen die Standards, auf die es ankommt. In der Praxis zumindest.

Zurück zum Lesen. Es sei altmodisch. Viele Vermittler, Lehrer und Journalisten, haben selbst keine Zeit mehr für intensive Lektüre. In den Zeitungen oder Zeitschriften, nicht nur im Internet, sind längere Sätze verpönt. Sie seien als komplizierte unzumutbar. Mit dieser Haltung, niemanden etwas zumuten zu wollen, verdünnt man mehr und mehr. Das alles ist nicht neu. Es hat auch nicht nur mit dem Lesen zu tun, sondern mit der Bereitschaft, sich aktiv mit seiner und anderer Kulturen zu beschäftigen.

Vor Jahren schon beobachtete der Literaturtheoretiker George Steiner:

"The point is not trivial. As footnotes lengthen, as glossaries become more elementary (right now it might still be 'Troilus: Trojan hero in love with Cressida, daughter of Calchas, and betrayed by her,' but in a few years the Iliad itself may require identification), the poetry loses immediate impact. It moves out of any direct line of vision into a place of special learning. This fact marks a very large change in the consensus assumed between poet and public. The world of classical mythology, ..., is receding from our natural reach."

Trotz Lesefähigkeit wird ein Grossteil der Literatur unlesbar, weil immer mehr Kontextwissen fehlt. Ein ähnliches Fänomen ist hinsichtlich der Historie oder Politik zu bemerken. Das hat natürlich Auswirkungen.

In langen Jahren meiner Universitätslehrtätigkeit musste ich feststellen, dass gewisse Texte und "Jargons" stetig von immer weniger verstanden oder goutiert wurden. Einem Nichtfilosofiestudenten Texte von Adorno zuzumuten, war zuviel. Die Sprachfeinheiten von Karl Kraus konnten mit immer weniger Publizistikstudenten diskutiert werden, weil sie die Werke oder auch den Autor nicht kannten. Die Liste liesse sich fortführen. Ich will meine subjektiven Eindrücke und Belege nicht als repräsentativ hinstellen. Aber sie komplettieren mein Bild, das ich auch aus anderen Quellen errichtete und erweitere.

Machen Sie einen Test. Würden Sie Sätze, wie sie für Kleist typisch und üblich waren, in einem heutigen Text hinnehmen? Hier ein Beispiel:

Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen. Dabei ist mir nichts heilsamer, als eine Bewegung meiner Schwester, als ob sie mich unterbrechen wollte; denn mein ohnehin schon angestrengtes Gemüt wird durch diesen Versuch von außen, ihm die Rede, in deren Besitz es sich befindet, zu entreißen, nur noch mehr erregt, und in seiner Fähigkeit, wie ein großer General, wenn die Umstände drängen, noch um einen Grad höher gespannt.
Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805)

Lesen ist Aktivität. Ist Wiederbeleben von fixierter, eingefrorener Sprache. Lesen ist viel, viel mehr als Entziffern. Doch heute reden die Jungen von "Ablesen", ähnlich dem "Abtanzen", "Abfeiern". Es ist eine Ab-Kultur, eine Abtritt-Kultur. Doch mit Ablesen bin ich nicht im Lesen. Darin zeigt sich schon eine Reduktion oder Perversion. Das Problem liegt schon in der Haltung. Wer nur abliest, lässt sich nicht ein. Holt sich was, fertig. Das ist nicht Auseinandersetzung, Beschäftigung, Geistigkeit. Das ist Eindimensionalität, reduzierte Funktionalität.

Besagter George Steiner drückte seine Lesesicht gut aus:

To read essentially is to entertain with the writer's text a relationship at once recreative and rival. It is a supremely active, collaborative yet also agonistic affinity, whose logical, if not actual, fulfillment is an "answering text".

Den wesentlichen Anteil, den der Leser zum Effekt des Werks beiträgt, betonte auch Goethe:

Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu tun hat.

Der Hinweis auf jene, die kaum Entziffern können, verdeckt allzu leicht die Misere der andern, die zwar Lesen und Schreiben können, aber sich nicht weiter aufhalten wollen mit Antworten des "Was" und "Wie". Sie sind erhaben als Erhobene, wie die Einäugigen unter Blinden. (Alles relativ!)

(MyPersonalContent v1.3 © Rico Pinzke)
 
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