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Lesefreude - Leseflucht PDF Drucken E-Mail
Donnerstag, 16. April 2009

Leseflucht könnte auch eine ins und übers Lesen sein, anstatt vor ihm.

Kolumne "Das Wort zum Sonntag" von Haimo L. Handl, 23.01.2005

In meiner Kindheit war Lesen DAS Fluchtmittel. So früh wie möglich, noch unbewusst, wurde es erlernt, weil es erlaubte, Fremdes zu erkunden. Das Fremde waren zuerst die einfachen Geschichten, später die komplizierteren, die die Fantasie stark, nachdrücklich, komplex beschäftigten.

Als ich als ganz Junger "Die Wörter" von Sartre las, verstand ich sofort seine Sucht. Ich vermochte sicher nicht die Tiefe, den eigentlichen Gehalt zu deuten, wie später, aber ich verstand die Hauptbotschaft. Es war mir nicht fremd.

Lesen hatte mir, wie ich später hörte, "das Kino im Kopf" eröffnet. Auch ohne diese Bezeichnung wusste ich, dass über Lesen ich mir die Welt hereinholte in Form von Teilen, Geschichten, Figuren, Schicksalen, Aufgaben, Drohungen, Gefahren, Lösungen, Glück. Mit diesen Teilen konnte ich "operieren", das heisst, ich hatte vielfältige Identifikationsmöglichkeiten, Idole, Hassobjekte, an und mit denen ich spielerisch "arbeiten" konnte, mit denen ich umging. Lektüre erweiterte den Freundeskreis.

Ich war nur für kurze zwei Jahre in einem Gymnasialinternat in Tirol. Der mir als Horror erschienen Zeit war ich vor allem über das Lesen entkommen. Neben den Büchern von daheim, die ich nur Ausgewählten zeigte oder borgte, hatte ich sofort die Schulbibliothek durchforstet nach interessant scheinenden Büchern. Und die las ich, wann immer und wo immer es ging.

Es war verboten, Bücher in den Schlafsaal mitzunehmen. Es war aber einiger "Sport", dennoch heimlich mit einer kleinen Taschenlampe unter der Decke zu lesen. Oder während der Studiumszeit unter dem Schulbuch den eigentlichen, den freigewählten Text liegen zu haben und sich in seine Lektüre zu vertiefen.

Die bornierte katholische Enge dieses Anstaltslebens war nur über zwei Wege zu durchbrechen: die brachiale, grobe, die die meisten wählten, im Fussballspiel tobten und im Umgang rüpelhaft oft herumprügelten, schlägerten, kurz geagt, ihre Frustrationen aggressiv abbauten, und die andere über den Kopf, die ich wählte. Die schützte nicht vor der Grobheit oder den Schlägen, da musste man konkret ausweichen. Aber sie öffnete ganz andere Felder.

Heute beklagen wir eine gewisse Leseunlust. Eigentlich eine paradoxe Entwicklung: die Kommunikationstechnologie reift weiter aus, macht leichter und schneller Medien zugänglich, die kulturellen, sozialen Bedingungen haben sich in unseren Breiten verbessert, so dass die potentiellen Zugänge ungleich offener gegeben sind als noch vor 40 oder 30 Jahren.

Trotzdem wird weniger gelesen und das, was gelesen wird, ist meist nicht elaboriert. Es sind nicht nur die Bilder, die einfachen, die animierten, die bewegten, die die Aufmerksamkeit absorbieren. Es hat mit einem Verhältnis von abstrakt/konkret zu tun, mit einer Haltung, wie jemand an etwas herangeht.

Es werden nicht einfach Wörter gelesen, sondern Sätze. Sätze in Absätzen zu Texteinheiten zusammengefasst. Es wird nicht "entziffert". Lesen heisst eine Doppelfunktion erfüllen (können): die eigentliche Wahrnehmung der aus Lettern sich präsentierenden Symbole und, wesentlich, das Erfassen des Sinns. Erst wenn die Voraussetzung, die erste Wahrnehmungsstufe sozusagen, so internalisiert worden ist, dass sie "automatisch", fast unbewusst erfolgen kann, ähnlich dem Atmen, kann das Lesen die Arbeit an der Sinnerfassung adäquat leisten.

Dann erst bewegt die Leserin sich frei im Land. Sonst kommt sie nicht dorthin oder humpelt behindert, wie mit Krücken herum, oder hantelt sich unsicher, ängstlich am Geländer entlang, oder stolpert mühsam von einer vermeintlichen Oase (einer Illustration, einer konkreten Darstellung) zur anderen, ohne am Weg dazwischen, der nur mühsam schmerzt, irgendetwas aufnehmen zu können.

Diese Denkfähigkeit, Abstraktes zu erfassen und umzuwandeln in Konkretes, in Vorstellung, ist das eigentliche Geheimnis für Lesen und Lesefreude. Es wird zum Wechselspiel. Man verwandelt, verbindet, zerlegt, setzt zusammen, gestaltet. Das Vorstellungsvermögen, die Fantasie, arbeiten intensiv, das analytische Denken fügt sich ein, setzt fort, stellt sich gegenüber, ist aber nie Feind, immer im Verbund mit der schillernden Fantasie, mit den drängenden Ideen.

Ist einmal diese Stufe erreicht und wird sie gepflegt, wirkt sich das nicht nur auf die Lesequalität aus, sondern insgesamt auf das Sprach- und Denkvermögen. Alles wird reichhaltiger, vieldimensional.

Der "eindimensionale Mensch" (Herbert Marcuse) war mir immer der "beschränkte" Nicht- oder Wenigleser, der meist auch im restringierten Sprachkode gefangen blieb.  Dessen Vorstellungswelt nicht selbsttätig komplex gestaltbar war, nur dürftig. Der sich dankbar an die konkreten Vorgaben hielt, die Illustrationen, die Bilder.  Meine Geringschätzung der Comix und Fotoromane rührt von dorther.

Wir leben in einer Kultur des "eysy going", "easy listening". Nun fördern auch die Neuen Medien das leichte Lesen. Alles schnell, kompakt, kurz. Einfache Sätze, keine Komplexitäten. Die spart man sich auf für Glamour. Es scheint, dass ein Zusammenhang besteht mit dem Anwachsen der Komplexität und Qualität  der Video- oder Animationsgrafik im Internet und der Abnahme der Lesefähigkeit. Kinder, die "Kids", bilden und trainieren ihr Reaktionsvermögen in meisterhaft produzierten Vorgaben (Spiele, Simulationen etc.), während das Aktionsvermögen, die Fähigkeiten, wie oben beschrieben, verkümmern.

Das muss Auswirkungen auf die Denkfähigkeit haben. Es hat auch Auswirkungen darauf und das damit bedingte Verhalten. Es ist keine Frage von Vorlieben nach bildungsbürgerlichen Kriterien. Es ist eine Frage der Qualität einer Gesellschaft. Je mehr ihrer Mitglieder nur re-agieren anstatt agieren, desto leichter wird sie manipuliert werden, desto eher wird sie im Vorgegebenen sich gefangen halten und darüber nicht reflektieren können, weil das Nichtkonkrete, das Abstrakte so fremd ist, dass es nicht zu (er)fassen ist.

Hat doch System, das ganze, nicht? Kein Zufall, dass die Ausrichtung als Abrichtung nicht nur der IT- Industrie dient, sondern insgesamt dem herrschenden System der Konsumgesellschaft.

(MyPersonalContent v1.3 © Rico Pinzke)
 
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